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Kri­sen und Selbst­ver­trau­en beim aka­de­mi­schen Schrei­ben

Themenreihe "Mut zum Ich: Wissenschaft zwischen Selbstvertrauen, Zweifel und Persönlichkeit"

Be­son­ders in der Qua­li­fi­zie­rungs­pha­se ha­ben vie­le Nachwuchswissenschaftler:innen mit Selbst­zwei­feln und Un­si­cher­hei­ten zu kämp­fen.

In der Rei­he „Mut zum Ich: Wis­sen­schaft zwi­schen Selbst­ver­trau­en, Zwei­fel und Per­sön­lich­keit” ha­ben wir uns mit ver­schie­de­nen Her­aus­for­de­run­gen auf dem Weg zur Pro­mo­ti­on aus­ein­an­der­ge­setzt. Sei ge­spannt auf die kom­men­den Bei­trä­ge!

 

»Nie­mand ist mit Mut be­seelt«

 

Von René Pi­kar­ski

 

1 | Mei­ne Held:innen und ihr schein­bar un­ver­nünf­ti­ges Selbst­ver­trau­en

Es ist zu­gleich Fluch und Se­gen. Im­mer, wenn mein Selbst­ver­trau­en in eine Kri­se ge­rät, ver­glei­che ich mich mit Per­so­nen, die gro­ßes Selbst­ver­trau­en zei­gen. Im­mer, wenn ich beim Schrei­ben mei­ner Dis­ser­ta­ti­on un­si­cher wer­de, ob das, was ich weiß und tun kann, auch aus­rei­chen wird, rei­chern sich mei­ne ei­gent­lich der Zu­kunft gel­ten­den Sor­gen nicht nur mit Er­in­ne­run­gen ver­gan­ge­ner Feh­ler an. Zu ih­nen ge­sel­len sich auch Vor­stel­lun­gen von al­ler­hand Held:innen, bei de­nen Selbst­ver­trau­en und Selbst­be­wusst­sein ge­ra­de­zu ver­schmel­zen. Im­mer, wenn mein Mund tro­cke­ner, der Herz­schlag schnel­ler und mein Ma­gen flau­er wird, ver­bün­det sich der Kri­ti­ker-in-mir, der Ein­zi­ge, der in die­ser Kri­se un­be­irrt mit lau­tem Selbst­ver­trau­en strot­zen kann, mit die­sen Held:innen. Ge­mei­ne Ver­rä­ter, lie­be­vol­le Dä­mo­nen, ich kann ih­nen nicht lan­ge böse sein. Sie wol­len mir in ih­rer un­heim­li­chen Al­li­anz den Aus­weg deu­ten, mir zei­gen, dass auch in ei­ner Kri­se das Selbst­ver­trau­en nicht ganz ver­schwun­den ist. Sie er­in­nern mich dar­an, dass ich ge­ra­de in sol­chen Au­gen­bli­cken da­mit be­gin­nen kann, mein Selbst­ver­trau­en im­mer wie­der neu zu schöp­fen. Plötz­lich er­scheint es mir nicht mehr als Et­was, das den Glück­li­chen und Au­ßer­ge­wöhn­li­chen zu­kommt, son­dern als Wer­den ei­ner le­ben­di­gen, ver­än­der­ba­ren und ge­stalt­ba­ren Be­zie­hung zu mir selbst.

Ich möch­te die­se Er­fah­rung als Ge­schich­te er­zäh­len. Sie be­ginnt mit der Fest­stel­lung, dass ich gar kein Held sein möch­te. Denn eine gro­ße, küh­ne Tat ist mei­ne Dok­tor­ar­beit nicht. Kein Men­schen­schick­sal steht auf dem Spiel, we­der ein Wer­be­ver­spre­chen noch mein per­sön­li­ches See­len­heil hän­gen von ihr ab. Zum Glück und Lu­xus der Phi­lo­so­phie: Wir machen’s nun wirk­lich nicht für un­sterb­li­chen Ruhm und glän­zen­de Ehre, und schon gar nicht un­end­li­chen Reich­tums oder gren­zen­lo­ser Macht we­gen. Mei­ne Ar­beit wird von der Neu­gier am The­ma ge­tra­gen, vom Ziel mei­ner Qua­li­fi­ka­ti­on in die Zu­kunft ge­zo­gen und da­bei an­dau­ernd von ei­ner ge­mein­sa­men Ver­stän­di­gung jus­tiert, wie sie ein sinn­vol­ler Bei­trag im Dis­kurs sein kann. Mit Blick auf ihr Ge­lin­gen bin ich zu­ver­sicht­lich, doch über die Rol­le, die mein Selbst­ver­trau­en da­bei spielt, den­ke ich nur sel­ten nach. Wo­mög­lich, weil das mir ent­ge­gen­ge­brach­te Ver­trau­en aus­reicht. Oder weil es im aka­de­mi­schen Dis­kurs aus gu­ten Grün­den hin­ter ei­nem mess­ba­ren, sich ob­jek­tiv dar­stel­len­den Maß­stab von al­ler­hand Kri­te­ri­en der Zu­ver­läs­sig­keit und äu­ße­rer Gü­te­sie­gel zu­rück­tritt. DIN-Diss ohne Hel­den­mut: Der Dis­kurs hat sei­ne Pfa­de halb­wegs aus­ge­tre­ten, das Ver­fah­ren für die Aben­teu­er mei­ner Ideen ist gut ge­re­gelt und Zu­ver­läs­sig­keit ist, wie in den meis­ten Pro­fes­sio­nen, viel ver­nünf­ti­ger als Ver­trau­en.

Doch voll­stän­dig ab­si­chern kön­nen all die­se ra­tio­na­len Maß­nah­men mei­ne Si­cher­heit beim Schrei­ben nie. Es gibt Un­si­cher­hei­ten, die nur die sinn­li­che Evi­denz mei­nes Ver­trau­ens hän­deln kann. Ge­org Sim­mel sagt, wer al­les wüss­te, kon­trol­lie­ren und über­wa­chen könn­te, bräuch­te we­der sich selbst noch An­de­ren ver­trau­en. Ich aber weiß we­nig, mein Ver­trau­en ist also die Vor­schuss­leis­tung ge­gen­über ei­ner un­ge­wis­sen Zu­kunft. Selbst, wenn ich nicht blind, son­dern mit gu­ten Grün­den in mein Kön­nen ver­traue, gibt es ei­nen ir­ra­tio­na­len, un­ver­nünf­ti­gen Über­schuss: ich tue und hand­le wi­der bes­se­ren Wis­sens so, als ob nur eine wün­schens­wer­te Ver­si­on mei­ner Zu­kunft ein­tre­ten wird, ob­wohl auch ihr Ge­gen­teil ein­tre­ten könn­te. In dem ich ver­traue, kann ich die doo­fe Mög­lich­keit aus­blen­den. Die­se Si­cher­heit hat et­was er­fri­schend Un­lo­gi­sches, ohne das der Mensch nicht über­le­bens- und hand­lungs­fä­hig wäre. Wer nichts und nie­man­dem ver­trau­en kann, schränkt sich und sei­ne ei­ge­nen Hand­lungs­mög­lich­kei­ten so­gar ein: die Un­wis­sen­heit wür­de uns läh­men, sagt Ni­klas Luh­mann und macht Hoff­nung: zu tief wer­de ich qua Le­bens­an­spruch nie in das schie­re Miss­trau­en fal­len. Ein In­diz, dass mein Selbst­ver­trau­en nie voll­stän­dig ver­schwin­det, selbst wenn es hin und wie­der so scheint?

Da schrei­be ich manch­mal den gan­zen Tag an ei­nem Ab­schnitt und be­en­de Bei­des mit dem Bauch­ge­fühl: Das war wohl ein­fach nix. Ah­nungs­los, ob‘s mor­gen bes­ser ge­lingt, geht’s auf die ran­zi­ge Fern­seh­couch. Mein Lieb­lings­erbstück der Stu­di­en­zeit, so fühlt es sich auch an: Ich habe er­neut im ers­ten Se­mes­ter Platz ge­nom­men. Schnell um­schal­ten zu mei­nen al­ten Filmheld:innen. Kurz raus aus der Rea­li­tät und hin zum un­er­läss­li­chen Mo­ment ih­res mir ganz na­hen Zwei­fels ge­gen­über den ei­ge­nen Fä­hig­kei­ten und Mög­lich­kei­ten: Der Au­gen­blick, in dem mei­ne Hollywood-Held:innen den kur­zen dra­ma­tur­gi­schen Kunst­knick ih­res an­sons­ten strot­zen­den Selbst­ver­trau­ens aus­hal­ten müs­sen, be­vor sie mit neu­er Stär­ke, un­be­irr­ba­rer als je zu­vor, ihr Werk für uns voll­enden. Doch nach so ei­nem Tag wir­ken sie schlecht ge­al­tert, wie ana­lo­ger Kitsch auf gro­bem un­emp­find­li­chen Korn, das sich nur mit gro­ßer Mühe und ab­so­lut un­rea­lis­ti­schem Schein be­lich­ten ließ. Ist mei­ne Vor­stel­lung von Selbst­ver­trau­en aus ei­nem Ma­te­ri­al, das sich der­art kri­tisch zur Er­leuch­tung ver­hält? Ist es aus der Zeit ge­fal­len und zu my­thisch, um als Mo­ti­va­tor in mei­ner auf­ge­klär­ten und streng ra­tio­na­len Um­welt über­le­ben zu kön­nen?

Nö.

Denn mei­ne Filmheld:innen sind ja nur zeit­lo­se Scha­blo­nen ih­res al­ler­ers­ten Vor­bilds Odys­seus. Und der konn­te sein noch so my­thi­sches, hel­den­haf­tes Selbst­ver­trau­en über­haupt erst her­vor­brin­gen, in dem er es in den Dienst sei­ner nüch­ter­nen, stra­te­gisch klug ab­wä­gen­den, am Ende doch recht ver­nünf­ti­gen und vor­aus­schau­en­den Hand­lun­gen stellt. Da in die­ser Ur­sze­ne des Selbst­ver­trau­ens viel Al­ko­hol ins Spiel kommt, öff­ne auch ich eine Fla­sche Wein und rede mir ein, es gin­ge heu­te nicht um die Wahr­heit am Fla­schen­bo­den. Dem gro­ßen Odys­seus gleich, wer­de ich die Trun­ken­heit na­tür­lich nur zur klu­gen Ent­fal­tung mei­nes Selbst­ver­trau­ens in der Schreib­kri­se nut­zen.

 

2 | Odys­seus und die stra­te­gi­sche Ent­fal­tung des Selbst­ver­trau­ens

Da stran­det der ver­irr­te Grie­che auf ei­ner wei­te­ren In­sel, sieht sich dem »gräss­li­chen Scheu­sal« Po­ly­phem aus­ge­lie­fert und muss da­bei zu­se­hen, wie der Rie­se Tei­le sei­ner Crew bes­tia­lisch ver­speist. Der über­mensch­li­che Ky­klop scheint un­be­zwing­bar. Odys­seus‘ Dis­ser­ta­ti­on (also die Aus­ein­an­der­set­zung) mit ihm wird für den vor Schreck er­starr­ten Hel­den zu ei­nem aus­sichts­lo­sen Schlacht­feld. Das ken­ne ich. Doch ge­nau in die­ser Si­tua­ti­on geht sein un­be­grün­de­tes und un­ver­nünf­ti­ges Selbst­ver­trau­en aus ei­ner zwei­fa­chen List her­vor. Die List, beim Rie­sen eine Dumm­heit zu pro­du­zie­ren und aus­nut­zen und die List, den ei­ge­nen Na­men und da­mit al­les Wis­sen und den Ruf ab­zu­le­gen, die die­sem hel­den­haf­ten Na­men nach- und vor­aus­ei­len. Der Schiff­brü­chi­ge füllt den Ky­klo­pen erst mit sü­ßem Wein und dann mit sü­ßen Wor­ten ab. »Drei­mal leert‘ er in Dumm­heit«, be­vor ihn die fol­gen­den Wor­te von Odys­seus er­rei­chen:

»Mei­nen Na­men, Ky­klop, den ge­prie­se­nen? Sie­he, du sollst ihn
Wis­sen; nur rei­che mir du das Ge­schenk auch, wie du ver­spra­chest.
Nie­mand ist mein Name, denn Nie­mand nen­nen mich alle,
Mut­ter zu­gleich und Va­ter, und an­de­re mei­ne Ge­nos­sen.«

Dar­auf der be­schwips­te Po­ly­phem:

»Nie­mand denn ver­zehr‘ ich zu­letzt nach sei­nen Ge­nos­sen,
Alle die an­dern zu­vor; das soll dein gast­lich Ge­schenk sein.«

Wäh­rend ich selbst das Glas schwen­ke, be­kom­me ich Mit­leid mit der Dumm­heit des Ky­klo­pen. Ich möch­te ihn mit Kant in Schutz neh­men, der die Dumm­heit nicht als Dau­er­zu­stand, son­dern als auf­tre­ten­den Man­gel an Ur­teils­kraft an­sieht. Dass Odys­seus die Dumm­heit des Rie­sen aus­nutzt, die er selbst her­vor­bringt, heißt nur, dass er ihn kurz­wei­lig da­von ab­hält, ein rich­ti­ges Ur­teil zu fäl­len. Er sorgt da­für, dass man über ihn nicht ur­teilt; dass man ihn nicht vor­schnell ver­ur­teilt, etwa zum Tode. Ohne die Sus­pen­die­rung die­ses Ur­teils kann Odys­seus nicht ins selbst­be­wuss­te Han­deln kom­men: Weil er nicht ver­ur­teilt ist, kann er sich zu­trau­en, die Si­tua­ti­on zu ver­än­dern und sich selbst aus der Kri­se zu be­we­gen. Ich ver­su­che in mei­ner Schreib­kri­se dar­an zu den­ken, kei­nem vor­schnel­len Ur­teil über mein Kön­nen und die Zu­kunft statt­zu­ge­ben und mich wie Odys­seus am stra­te­gi­schen Wert die­ser kurz­wei­li­gen »Dumm­heit« zu er­freu­en.

Be­vor sein Selbst­ver­trau­en so rich­tig in Fahrt kom­men kann, be­freit sich Odys­seus von den Vor­ur­tei­len, aber auch von Zwän­gen und vom Druck durch al­ler­lei Er­war­tun­gen, die mit sei­nem Na­men und sei­nem Sta­tus ver­bun­den sind. In der aus­weg­lo­sen Kri­se be­freit er sich zum Nie­mand, er wird für eine kur­ze Dau­er na­men­los. Lan­ge vor Fou­caults da­mals noch post­struk­tu­ra­lis­ti­schem Wahn­sinn vom »Tod des Au­tors«. Odys­seus geht es um die sou­ve­rä­ne Un­ter­bre­chung von un­ter­schied­li­chen Er­war­tungs­hal­tun­gen durch die Ver­än­de­rung von An­sprech- be­zie­hungs­wei­se An­spruchs­ver­hält­nis­sen. Spä­ter wird der über den Na­men auf­ge­klär­te Ky­klop ihm hin­ter­her­brül­len:

»Doch er­war­tet‘ ich stets, ein gro­ßer und staat­li­cher Kern­mann
Soll­te da­her einst kom­men, mit Kraft und Stär­ke ge­rüs­tet;
Und nun hat so ein Ding, so ein elen­der Wicht, so ein Weich­ling,
[…] mich be­wäl­tigt!«

Der Aus­gang aus der läh­men­den Kri­se kann be­gin­nen, als nicht mehr alle Au­gen auf Odys­seus, son­dern auf Nie­man­den ge­rich­tet sind, als nie­mand auf ihn war­tet und nie­mand et­was von ihm er­war­tet. Er macht sich zum Nie­mand, um wie­der hand­lungs­fä­hig zu wer­den und eine an­de­re Zu­kunft zu ha­ben als den si­che­ren Tod. Das my­thi­sche Wort ist mehr als nur ein lo­gi­scher Sprach­witz im Epos: Wenn der Rie­se sagt, er wür­de Nie­man­den ver­zeh­ren, ist sein Wort gleich­be­deu­tend mit der Hand­lung, nie­man­den zu ver­zeh­ren. Im My­thos muss der Rie­se zu sei­nem Wort ste­hen, weil es kei­ne lo­gi­sche Dis­kre­panz zwi­schen Aus­sa­ge und Wirk­lich­keit ge­ben kann. Das Spek­ta­ku­lä­re ist, dass Ho­mer Odys­seus die­se Ma­gie des Wor­tes als ganz und gar ra­tio­na­les In­stru­ment ei­ner stra­te­gi­schen Ver­nunft nut­zen lässt: Odys­seus spricht nicht ein­fach nur nicht die Wahr­heit. Er bringt im Kri­sen­mo­dus auf spon­ta­ne und selbst­be­wuss­te Wei­se eine neue Wahr­heit her­vor. Hin­ter dem ver­meint­li­chen Sprach­trick er­scheint die ei­gent­li­che Hel­den­tat, die plötz­lich gar nicht mehr so weit von mei­nem Couch-Ver­such ent­fernt ist: Odys­seus ver­sucht, ein Wis­sen dar­über zu ge­ne­rie­ren, das ihn aus sei­ner Ohn­macht be­freit und zu­ver­sicht­lich macht; ein Wis­sen, das ihn dazu be­fä­higt, sich selbst et­was zu­zu­trau­en. So wird eine frühs­te eu­ro­päi­sche Er­zäh­lung vom Selbst­ver­trau­en mög­lich:

»Schnell nun steckt ich den Pfahl in den glim­men­den Hau­fen der Asche,
Dass er Feu­er mir fing, und re­de­te mei­nen Ge­nos­sen
Herz­haft zu, dass kei­ner zu­rück mir füh­re vor Zag­heit. […]
Trug ich ihn schnell aus dem Feu­er hin­an, und die Mei­ni­gen rings­um
Stell­ten sich; aber mit Mut be­seelt‘ uns kräf­tig ein Dä­mon,
Jene, zu­gleich auf­he­bend den ab­ge­spit­ze­ten Öl­brand,
Stie­ßen ins Aug‘ ihm hin­ab; und ich, in die Höhe ge­rich­tet,
Dre­he­te.«

Das Selbst­ver­trau­en be­seelt Odys­seus als dä­mo­ni­sche Ein­ge­bung, als In­tui­ti­on, die ihm im güns­ti­gen Au­gen­blick ein an­de­res Schick­sal zu­teilt als den ihm ge­ra­de noch si­cher er­war­ten­den Tod: eine Ein­ge­bung, die den Aus­gang aus der Mut­lo­sig­keit an­ge­sichts un­bän­di­ger, un­be­ein­fluss­ba­rer Kräf­te und den Über­gang zum Mut her­vor­bringt. Der dai­mon ist eine Macht, die auf au­ßer­or­dent­li­che, wun­der­sa­me, eben ir­ra­tio­na­le und un­be­re­chen­ba­re Wei­se auf sein Han­deln ein­wirkt. Die Nähe zu dai­esthai deu­tet auf die Zu­tei­lung ei­nes neu­en Sinn­ho­ri­zonts, der eben noch nicht da war und sich be­ginnt, in Form ei­ner sinn­li­chen Evi­denz durch­zu­set­zen, be­vor er auf die ra­tio­na­le und kri­ti­sche Re­fle­xi­on tref­fen und als zu­künf­ti­ge Wahr­heit fest­ge­stellt wer­den muss. Und die­ses emp­fun­de­ne Selbst­ver­trau­en ist eine Ein­sicht, die nicht al­lein Odys­seus ge­hört. Sein Selbst­ver­trau­en ent­steht als so­li­da­ri­sche Pra­xis, es ist nur ge­mein­sam wirk­sam, als Fun­ke, der un­ter den Lei­dens­ge­nos­sen über­springt. Memo an mich: Mor­gen die Leu­te aus dem For­schungs­kol­leg an­ru­fen, ich bin si­cher nicht der Ein­zi­ge in sol­chen Schreib­kri­sen.

Odys­seus ent­geht ei­ner Ver­fol­gung, weil nie­mand ver­folgt wer­den kann und soll. Auch nicht mit Hil­fe der an­de­ren he­r­an­ei­len­den Ky­klo­pen, die sich um Po­ly­phem sor­gen:

»Ob dir die Her­den viel­leicht der Sterb­li­chen ei­ner hin­weg­raubt,
Oder dich selbst auch tö­tet, durch Arg­list, oder ge­walt­sam?«

»Nie­mand tö­tet mich, Freun­de, durch Arg­list; kei­ner ge­walt­sam!«

Da­mit en­det die für die Be­frei­ung nö­ti­ge Sus­pen­die­rung von läh­men­den Wahr­hei­ten und un­aus­weich­li­chen Schick­sa­len. Odys­seus hat­te nicht mit dem Selbst­ver­trau­en die Kri­se über­stan­den, son­dern es in der Kri­se ge­fun­den. Er hat­te es ge­fun­den, um sein Schick­sal in die Hand zu neh­men, es für ei­nen kri­ti­schen Mo­ment lang un­si­cher und ge­stalt­bar zu ma­chen und in Un­si­cher­heit und Un­wis­sen eine neue Wahr­heit über die Zu­kunft zu schöp­fen. Am nächs­ten Tag, als »die däm­mern­de Eos mit Ro­sen­fin­gern em­por­stieg« und Odys­seus wie­der an mei­nen Schreib­tisch, äh, sei­nen Schiffs­pos­ten zu­rück­kehrt, ist die Kri­se be­reits nur noch ein schwer­mü­ti­ges Erbe der letz­ten Nacht. Ein Erbe, das nach­hallt und so den Wert des neu­en Froh­sinns, Ta­ten­drangs und der Er­leich­te­rung be­stimmt, der To­des­ge­fahr noch ein­mal ent­kom­men zu sein. Auch mei­ne Irr­fahrt kann wei­ter­ge­hen.

 

3 | Selbst­ver­trau­en als in­tui­ti­ves Wer­den

Am Ende sind es drei Din­ge, die die Un­ru­he in mei­nem Selbst­ver­trau­en noch in sei­ner Kri­se be­sänf­ti­gen. Mich be­ru­higt, dass auch das hel­den­haf­te Selbst­ver­trau­en die gan­ze Zeit mit Furcht und Angst und auch mit Zwei­fel am Er­folg ver­ein­bar bleibt:

»Graun­voll brüllt‘ er Ge­heul laut auf, dass der Fel­sen um­her scholl:
Und wir, be­bend vor Angst, ent­flüch­te­ten.«

Mich be­ru­higt eben­so, dass sich am Ende das Selbst­ver­trau­en von sei­nen Be­din­gun­gen der List, Lüge und Dumm­heit eman­zi­pie­ren muss. Odys­seus muss sei­nen Na­men wie­der an­neh­men und all die Ur­tei­le und Er­war­tun­gen ge­gen­über sei­nen Ta­ten und Leis­tun­gen an­er­ken­nen, um zu sich selbst zu ste­hen. Nur so wird das vage Selbst­ver­trau­en zum selbst­be­wuss­ten Zu­trau­en und zur Zu­ver­sicht in eine selbst­be­stimm­te Zu­kunft: in un­se­ren bei­den Fäl­len die er­folg­rei­che Heim­kehr durch ei­ge­nes Kön­nen, durch ei­ge­ne Macht und in ei­ge­ner Ver­ant­wor­tung. Auch der­art klar haf­tet noch ein ir­ra­tio­na­ler Über­schuss am Selbst­ver­trau­en. Nun al­ler­dings in an­de­rer Form, als Hoch­mut und als Ver­wei­ge­rung, den über­aus ver­nünf­ti­gen Rat­schlä­gen sei­ner Freun­de zu fol­gen. Jap, darf auch mal sein. Aus Nie­man­des‘ Mut wird Odys­seus‘ Ei­fer. Aber weil er zum Selbst­ver­trau­en ei­nes Hel­den ge­hört, bin­det sich die Emp­fin­dung nun ein­zig an den ra­tio­na­len Zweck der Auf­klä­rung sei­ner selbst und sei­ner Um­welt. Das Selbst­ver­trau­en ist et­was, das Odys­seus frech und ei­gen­sin­nig zum Selbst­ver­wal­ter sei­nes Wis­sens und sei­ner Wahr­hei­ten macht. Es wird eine Mo­da­li­tät, wie er sich zu dem ver­hält, was er weiß und wel­che Wahr­hei­ten er An­de­ren ge­gen­über wann und in wel­cher Wei­se aus­spre­chen will:

»Als nun dop­pelt so weit fort­schif­fend ins Meer wir ge­kom­men,
Jetz­to rief ich von neu­em dem Wü­te­rich. Aber die Freun­de
Hemm­ten mich, an­de­re an­ders­wo­her, mit freund­li­chen Wor­ten:
›Un­glück­se­li­ger, strebst du den grau­sa­men Mann zu er­bit­tern,
Der nur eben ins Meer hin­warf sein Ge­schoss […].‹
Also die Freund‘, um­sonst das er­ha­be­ne Herz mir be­re­dend;
Den­noch rief ich von neu­em ihn zu mit er­ei­fer­ter See­le:
›Höre, Ky­klop, wo­fern dich ein sterb­li­cher Er­de­be­woh­ner
Je­mals fragt um des Au­ges er­bar­mungs­wür­di­ge Blen­dung;
Sag ihm: Der Städ­te­ver­wüs­ter Odys­seus hat mich ge­blen­det,
Er des La­er­tes Sohn, wohn­haft in Itha­kas Ei­land!‹«

Am al­ler­meis­ten be­ru­higt mich der Ge­dan­ke, dass Selbst­ver­trau­en kein Zu­stand und kei­ne Fä­hig­keit ist, die man ent­we­der hat oder nicht hat, die ei­nem zu­fällt oder nicht zu­fällt, um ein Ziel zu er­rei­chen. Selbst­ver­trau­en ist nie ein rei­ner Zu-Fall, son­dern et­was, das ich ge­mes­sen an der Si­tua­ti­on auf je un­ter­schied­li­che Wei­se her­vor­brin­gen kann, um mich selbst­er­mu­ti­gend zu dem ver­hal­ten zu kön­nen, was ich kann und weiß und was ich eben nicht wis­sen und tun kann. An­statt es an­de­ren zu nei­den, ver­su­che ich es lie­ber als ei­nen Pro­zess in den Gang zu be­kom­men, den ich ge­mein­sam mit an­de­ren und al­ler­hand Mo­ti­ven und Mo­men­ten sei­ner Mög­lich­kei­ten ge­stal­ten kann. Von der Be­schei­den­heit, nie­mand zu sein und der Hy­bris, je­mand an­de­res, neu­es zu wer­den; von dem Ver­mö­gen, sich von Ur­tei­len und Er­war­tun­gen und Druck nicht über­wäl­ti­gen und läh­men zu las­sen; bis hin zum Mut und Ei­fer, die Un­ge­wiss­heit sei­ner Zu­kunft aus­hal­ten und trotz­dem in ihre gute Er­fül­lung zu ver­trau­en und die­se Zu­kunfts­vi­si­on auch un­ter Sor­ge und Zwei­fel zu be­haup­ten: In die­sem or­ga­ni­schen und le­ben­di­gen Pro­zess bil­det sich Selbst­ver­trau­en so­wohl aus sinn­li­chen Emp­fin­dun­gen wie klu­gen Ab­wä­gun­gen. Es ist also vor­stell­bar als in­tui­ti­ver Über­gang zwi­schen dem, was wir füh­len und den­ken; da­mit aber auch zwi­schen ir­ra­tio­na­ler Un­mün­dig­keit und re­flek­tier­ter Auf­klä­rung, ins­be­son­de­re die Auf­klä­rung der Be­zie­hung sei­ner selbst zu sich und den ei­ge­nen Mög­lich­kei­ten, die Um­welt zu ver­än­dern und mit ei­ge­nem Bei­trag zu be­rei­chern. Und so schwappt von ges­tern Nacht noch ein biss­chen Kitsch aus dem Hel­den­film und von Odys­seus‘ Selbst­ver­trau­en her­über: Habe Mut, Dich beim Schrei­ben die­ser In­tui­tio­nen zu be­die­nen!

 

 

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