Besonders in der Qualifizierungsphase haben viele Nachwuchswissenschaftler:innen mit Selbstzweifeln und Unsicherheiten zu kämpfen.
In der Reihe „Mut zum Ich: Wissenschaft zwischen Selbstvertrauen, Zweifel und Persönlichkeit” haben wir uns mit verschiedenen Herausforderungen auf dem Weg zur Promotion auseinandergesetzt. Sei gespannt auf die kommenden Beiträge!
In einer lauten Welt werden die Stillen oft übersehen. Auch in der Wissenschaft. Wie du es trotzdem schaffst, gesehen zu werden, erfährst du in diesem Beitrag.
Von Hannah Berger
„Trau dich ruhig, öfter was zu sagen, Du kannst ja so viel!“ Diese wohl motivierend gemeinten Worte schrieb meine Grundschullehrerin vor vielen Jahren in mein Diddl-Freund:innenbuch. Damals ahnte ich noch nicht, dass mich dieser Satz bis weit in meine Zwanziger begleiten würde. Ich habe ihn schon in allen erdenklichen Variationen gehört. Von Lehrer:innen, Dozierenden und Vorgesetzten. Mal verpackt als gut gemeinter Ratschlag, mal als harsche Kritik.
Wenn eine Person etwas so oft gesagt bekommt, dann steckt in den meisten Fällen ein Fünkchen Wahrheit darin. So auch in meinem Fall: Während meiner Schulzeit war ich wohl das, was in Elterngesprächen und Zeugnisbemerkungen gerne als ‚stille Schülerin‘ bezeichnet wurde. Obwohl ich gute Noten schrieb, war die mündliche Mitarbeit immer eine Herausforderung für mich. Auch später an der Uni war ich in Gruppendiskussionen und Seminaren eher zurückhaltend und unauffällig. Bis heute kostet es mich Überwindung, mich aktiv in Gesprächsrunden einzubringen. Allein der Gedanke an Small Talk und Networking-Events bereitet mir Bauchschmerzen. Denn: Ich bin introvertiert.
Introversion hat nichts mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun
Während extravertierte Personen ihre Energie primär daraus ziehen, mit anderen Menschen in Kontakt zu sein, richten introvertierte Menschen ihre Aufmerksamkeit stärker auf ihr Innenleben. Soziale Interaktionen empfinden sie auf Dauer als auslaugend. Das bedeutet nicht, dass Introvertierte menschenhassende Einzelgänger:innen sind, die jegliche Form des sozialen Miteinanders ablehnen. Sie brauchen nur etwas mehr Zeit für sich, um ihre ‚soziale Batterie‘ wieder aufzuladen.
Introversion sollte deshalb nicht mit Schüchternheit oder mangelndem Selbstbewusstsein verwechselt werden. Zwar finden es viele introvertierte Menschen eher unangenehm im Mittelpunkt zu stehen und nehmen in ungewohnten Gruppensituationen oft eine beobachtende Rolle ein. Das heißt jedoch nicht, dass sie nichts zu sagen haben oder sich nicht trauen, etwas beizutragen. Sie denken häufig nur länger nach, bevor sie sich zu Wort melden und sind darüber hinaus besonders aufmerksame Zuhörer:innen.
Introversion ist keine Schwäche
Ich persönlich verstehe meine Introversion nicht als Schwäche. Im Gegenteil: Viele Eigenschaften, die ich besonders an mir schätze, führe ich unmittelbar auf meine Introversion zurück: Selbstdisziplin, Gewissenhaftigkeit und Durchhaltevermögen etwa. Ohne diese Fähigkeiten wäre ich vermutlich nicht da, wo ich heute bin, nämlich mitten in meiner Promotion.
Auf den ersten Blick ist die Wissenschaft – insbesondere die Geisteswissenschaft – ein Paradies für Introvertierte: Ich kann mich tagelang im Homeoffice verschanzen, Unmengen an Büchern wälzen, mich tief in ein selbstgewähltes Thema einarbeiten und das Tempo dabei weitgehend selbst bestimmen. Gleichzeitig gibt es in der Wissenschaft aber immer wieder Situationen, die eher auf Extravertierte zugeschnitten sind, während Introvertierte das Nachsehen haben.
Introvertierte Studierende werden oft übersehen
Das zeigt sich bereits vor dem Eintritt in die Qualifikationsphase. Während meines Studiums musste ich irgendwann feststellen, dass HiWi-Stellen oft an Studierende vergeben werden, die sich überdurchschnittlich oft in Seminaren zu Wort melden, die regelmäßig Sprechstunden besuchen und jede Gelegenheit nutzen, um mit Professor:innen ins Gespräch zu kommen.
Zwar kann man auch mit guten schriftlichen Leistungen auf sich aufmerksam machen, allerdings ist es in der Regel ein immenser Vorteil, wenn Dozierende einem Namen auf Anhieb ein Gesicht zuordnen können. Seit ich selbst unterrichte, weiß ich, dass das keine böse Absicht oder bewusste Bevorzugung von extravertierten Studierenden ist. Tatsächlich drohen stille Studierende neben ihren lauten Kommiliton:innen unterzugehen und bleiben unwillkürlich seltener im Gedächtnis.
Promovieren als introvertierte Person
Da ich an einer eher kleinen Uni studiert habe, haben mich einzelne Dozierende trotz meiner introvertierten Art irgendwann bemerkt und mich ermutigt, zu promovieren. Doch gerade die Promotionsphase hält für Introvertierte zahlreiche Herausforderungen bereit. Denn mindestens genauso wichtig wie die Arbeit im stillen Kämmerlein ist die Präsentation der eigenen Forschung und der Austausch mit anderen Wissenschaftler:innen. Das gilt für Konferenzen, Tagungen und Kolloquien ebenso wie für Auswahlgespräche oder Networking Events. Um solche Situationen erfolgreich meistern zu können, habe ich mir im Laufe der Zeit einige Überlebensstrategien angeeignet, die ich nun mit anderen Introvertierten teilen möchte:
5 Tipps für Introvertierte in der Wissenschaft
1. Lern dich selbst kennen.
Um als introvertierte Person souverän durch den Alltag zu gehen, ist es zunächst unumgänglich, dich intensiv mit deiner Introversion und ihrer Bedeutung für dich und dein Handeln auseinanderzusetzen. Wann erlebst du sie als einschränkend, wann als bereichernd? Mach dir bewusst, was deine Bedürfnisse und deine Grenzen sind. Welche Situationen überfordern dich? Und welche Faktoren spielen dabei eine Rolle? Nutze die Freiheiten, die die Promotionsphase bietet, um dir ein Umfeld zu schaffen, das deinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Je besser du dich selbst kennst, desto flexibler kannst du in Stresssituationen reagieren und deine Kraftreserven entsprechend einteilen.
2. Setz dir realistische Ziele.
Du wirst nicht von heute auf morgen zum Small-Talk-Profi. Benutze deine Introversion aber auch nicht als Ausrede, um unangenehmen Situationen von vornherein aus dem Weg zu gehen. Setz dir stattdessen individuelle und vor allem realistische Challenges, bei denen du dich Schritt für Schritt aus deiner Komfortzone herauswagst. Du kannst dir zum Beispiel vornehmen, auf einer Konferenz mit mindestens drei fremden Personen zu sprechen oder dich pro Seminarsitzung mindestens einmal aktiv zu Wort zu melden. Setz dich dabei aber nicht zu sehr unter Druck. Lass dich von extravertierten Kolleg:innen nicht einschüchtern und vergleiche dich nicht mit anderen, sondern nur mit dir selbst.
3. Bereite dich vor.
Introvertierten Menschen fällt es oft schwer, spontan etwas beizutragen. Daher kann es hilfreich sein, sich auf bestimmte Situationen vorzubereiten. Du kannst dir zum Beispiel schon vor oder während eines Vortrags Fragen zum Thema notieren, die du hinterher stellen möchtest. Wenn du es schwierig findest, auf Networking-Events mit anderen in Kontakt zu kommen, kann es Sicherheit geben, sich vorab mögliche Gesprächsthemen zu überlegen. Ein gemeinsames Forschungsinteresse ist dabei eine gute Basis.
4. Fake it till you make it.
Du bist gut so wie du bist und solltest dich nicht verstellen. Dennoch kann es manchmal helfen, sich selbst ein wenig auszutricksen. Gerade, wenn du neue Leute kennenlernst, kannst du versuchen, temporär eine extravertierte ‚Rolle‘ zu spielen. So wie manche Menschen eine ‚Telefonstimme‘ oder eine ‚Bühnenpersönlichkeit‘ haben, schaffst du dir auf diese Weise deinen persönlichen Networking-Modus, der sich im besten Fall irgendwann ganz automatisch in den betreffenden Situationen einstellt.
5. Such dir Verbündete.
Tu dich mit anderen Introvertierten zusammen. Gemeinsam könnt ihr zum Beispiel in einem geschützten Rahmen Präsentationen üben oder euch bei Veranstaltungen gegenseitig unterstützen. Oft reicht es aber schon, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und festzustellen, dass man nicht allein ist. Auch Extravertierte können eine wertvolle Stütze sein. Mit ihnen an deiner Seite kommst du leichter mit neuen Leuten ins Gespräch, ohne dabei die Initiative ergreifen zu müssen. Eine niedrigschwellige Möglichkeit, um während der Promotionsphase sowohl introvertierte als auch extravertierte Verbündete zu finden, sind Promotionskollegs: Durch gemeinsame Herausforderungen, Ziele und Projekte wächst man dort schnell zu einer Gemeinschaft zusammen.
All diese Tipps sollen Introvertierten wie mir dabei helfen, sich in ein System von Extravertierten einzufügen. Doch wer sagt eigentlich, dass Introvertierte sich anpassen müssen? Vielleicht ist es an der Zeit, die Regeln neu zu schreiben: Werde kreativ, um die Wissenschaft für dich und andere Introvertierte langfristig zu einem freundlicheren Ort zu machen. Ein guter Ausgangspunkt ist die Hochschullehre: Wenn du selbst Veranstaltungen leitest, kannst du zum Beispiel in Zukunft versuchen, stärker auf die Bedürfnisse introvertierter Studierender einzugehen: Kreiere eine vertrauensvolle Atmosphäre, gib den Kursteilnehmenden ausreichend Raum zum Nachdenken und sorge für ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen mündlichen und schriftlichen Beiträgen. Auch kleinere Lektüregruppen, in denen neue Lerninhalte gemeinsam erarbeitet werden, sind oft eine gute Möglichkeit, um zurückhaltenden Studierenden eine aktive Teilnahme zu erleichtern. Besonders bei interaktiven Lehrmethoden wie Rollenspielen oder Vertrauensübungen kann es zudem sinnvoll sein, mit der Gruppe eine Exitstrategie zu vereinbaren (z.B. Gesten oder Codewörter), die es den Teilnehmenden jederzeit ermöglicht, aus der Übung auszusteigen.
Fest steht in jedem Fall: Introvertierte sind für die Wissenschaft ebenso wertvoll wie Extravertierte. Deshalb lasst uns gemeinsam ein System gestalten, in dem beide Charaktertypen ihre individuellen Potenziale entfalten können und sich dabei gegenseitig in produktiver Weise ergänzen.