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Im Ge­spräch mit Hart­mut Rosa

Themenreihe: Eine Münchner Begegnung zwischen Soziologie und Philosophie

Lena Schütz­le und René Pi­kar­ski hat­ten wäh­rend ei­nes Work­shops des Dok­to­ran­den­kol­legs von Prof. Dr. Mi­cha­el Re­der an der Hoch­schu­le für Phi­lo­so­phie Mün­chen am 27. Juni 2025 die Chan­ce, mit dem So­zio­lo­gen Prof. Dr. Hart­mut Rosa von der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät Jena ins Ge­spräch zu kom­men. In die­ser The­men­rei­he be­rich­ten sie von ih­rem Aus­tausch.

 

Zum Bei­trag von Lena Schütz­le

 

Ein Denk­an­stoß von René Pi­kar­ski

In Re­so­nanz­erfah­run­gen »spricht« uns laut Hart­mut Rosa ein Mo­ment der Un­ver­füg­bar­keit an, aber auf wel­che Weise(n) »hö­ren« wir ei­gent­lich zu?

 

Mit die­ser Fra­ge möch­te ich Euch in ein klei­nes Sprach­spiel zum Be­griff der »Un­ver­füg­bar­keit« ver­wi­ckeln, der für die Re­so­nanz­theo­rie von ent­schei­den­der Be­deu­tung ist. Ich glau­be, die­se Fra­ge kreist um eine epis­te­mi­sche Her­aus­for­de­rung mit der Un­ver­füg­bar­keit, um die die Phi­lo­so­phie nicht so ein­fach her­um­kommt. Zu­min­dest dann nicht, wenn sie mit der so­zio­lo­gi­schen Theo­rie et­was an­fan­gen möch­te, die mit ei­ner so schö­nen Pro­kla­ma­ti­on be­ginnt:

»Das Le­ben voll­zieht sich als Wech­sel­spiel zwi­schen dem, was uns ver­füg­bar ist, und dem, was uns un­ver­füg­bar bleibt, uns aber den­noch ›et­was an­geht‹; es er­eig­net sich gleich­sam an ei­ner Grenz­li­nie.« [1]

Lasst mich zum Warm­wer­den mit der Un­ver­füg­bar­keit ein paar Eu­len nach Athen tra­gen und dar­an er­in­nern, dass die­ser Grenz­be­reich zwi­schen ei­ner ero­ti­schen und ei­ner er­ra­ti­schen Un­ver­füg­bar­keit tie­fe Wur­zeln in der Phi­lo­so­phie hat. Un­ser Dis­kurs ist ja vol­ler span­nen­der Ab­seits­fal­len im Spiel ei­ner at­trak­ti­ven Un­ver­füg­bar­keit, die uns auf- oder an­regt mit ei­ner er­ra­ti­schen Un­ver­füg­bar­keit, die für uns ein un­er­schließ­ba­res »Nichts« und »Nie­mand« bleibt, mit dem wir un­ter Ab­bruch un­se­rer Spon­ta­ni­tät ein­fach nichts wei­ter an­fan­gen kön­nen: Un­ver­füg­bar­kei­ten, mit de­ren Er­fah­rung wir ent­we­der tä­tig wer­den oder in des­sen An­ge­sicht wir ein­fach un­tä­tig blei­ben und die uns viel­leicht so­gar ab­sto­ßen.

Da ist etwa die al­ler­ers­te ero­ti­sche Un­ver­füg­bar­keit als An­fangs­mo­ment der Phi­lo­so­phie: das Nicht­wis­sen, das So­kra­tes zum Stau­nen bringt und zur Über­win­dung die­ses Man­gels treibt. Da ist aber auch ein An-sich der Din­ge, das Kant uns ein­fach nicht er­fah­ren, aber in der Mög­lich­keit als not­wen­dig an­neh­men lässt. In die­sem Grenz­be­reich der Er­fah­rung geht es au­ßer­dem um un­ein­deu­ti­ge Din­ge, die, wie Der­ri­da meint, das Ur­teil sus­pen­die­ren und in der Schwe­be hal­ten, weil sie sich ei­ner ex­ak­ten Dis­kri­mi­nie­rung und Ent­schei­dung ent­zie­hen. Es geht eben­so um Din­ge wie le­ben­di­ge, or­ga­nis­mi­sche Pro­zes­se, die sich selbst­tä­tig ver­än­dern und die wir laut Whit­ehead und Berg­son dis­kur­siv nie voll­stän­dig iden­ti­fi­zie­ren, un­ter all­ge­mei­ne Sche­ma­ta und uni­ver­sel­le Ka­te­go­rien sub­su­mie­ren kön­nen, weil sie sich in dem Mo­ment, wo wir sie be­grei­fen, schon längst in ih­rer Ei­gen­be­we­gung wei­ter­ent­wi­ckelt ha­ben. Es geht zu­dem um Din­ge, über die wir mit Witt­gen­stein viel­leicht »schwei­gen müs­sen«, ob­wohl ge­ra­de sie die ei­gent­li­chen Le­bens­pro­ble­me erst »be­rüh­ren«.

Grenz­erfah­run­gen des Denk­ba­ren in­ter­fe­rie­ren nun häu­fig mit de­nen des Mach­ba­ren: etwa, wenn Nietz­sche meint, je­des Be­grei­fen sei auch ein schöp­fe­ri­scher, welt­ma­chen­der, er­mäch­ti­gen­der Über­griff oder wenn Heid­eg­ger dia­gnos­ti­ziert, das mo­der­ne Den­ken sei ei­nes, das die Welt nur als »Be­stand« von tech­nisch ver­füg­ba­rem Ma­te­ri­al er­grei­fe: die Welt wird zum »Ge­stell«. Ver­liert sie zu­neh­mend ihr Un­ver­füg­ba­res, ver­liert sie auch die Mög­lich­keit, für uns die Er­fah­rung ei­nes an­de­ren Seins zu sein. Die Welt kann uns so nicht län­ger die Er­fah­rung ei­nes An­ders­seins bie­ten: wir kön­nen und wol­len ihre uns un­ei­gent­li­che Ei­gent­lich­keit und ihr spon­ta­nes, von uns un­ab­hän­gi­ges, d. h. eben un­ver­füg­ba­res Ei­gen­le­ben nicht mehr er­fas­sen. [2]

Ich glau­be, die­ses phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­che Echo er­klingt auch dort, wo die Un­ver­füg­bar­keit von Hart­mut Rosa im so­zio­lo­gi­schen Phä­no­men­be­reich be­stimmt und so­gar als Mo­ment ei­ner nor­ma­ti­ven Kri­tik in­sze­niert wird: als Phä­no­men etwa ver­schie­de­ner Man­gel­erfah­run­gen und den Dis­po­si­ti­ven ih­rer Er­zeu­gung und Über­win­dung in den Le­bens­be­rei­chen ei­ner sich bis ins Pa­tho­lo­gi­sche hin­ein be­schleu­ni­gen­den Ge­sell­schaft, die ten­den­zi­ell dar­auf hin­ar­bei­tet, tote Ma­te­rie und le­ben­di­ge »Din­ge« häu­fi­ger und schnel­ler ver­füg­bar zu ma­chen. Oder eben dort, wo die Un­ver­füg­bar­keit Teil ei­nes Re­zepts wird, um der zu­neh­men­den Ab­lö­sung ei­nes ge­lin­gen­den Le­bens von den vor­herr­schen­den mo­der­nen Le­bens­for­men, Le­bens­wei­sen und Le­bens­sti­len ent­ge­gen­zu­wir­ken: Selbst wenn Re­so­nanz­er­leb­nis­se kei­ne Ent­schleu­ni­gung ver­spre­chen, kön­nen sie der Be­schleu­ni­gung wo­mög­lich ei­nen Wert und Rhyth­mus ent­ge­gen­set­zen, der sich als dia­lek­ti­sche An­nä­he­rung und Di­stan­zie­rung zu un­se­ren Hab­se­lig­kei­ten, zum Er­reich­ba­ren, Mach­ba­ren, Pro­du­zier­ba­ren, Kon­trol­lier­ba­ren und Be­greif­ba­ren er­fas­sen lässt.

Be­vor ich nach dem Wie die­ses Er­fas­sens fra­ge, möch­te ich noch ein­mal das zen­tra­le Vo­ka­bu­lar zu dem ab­ern­ten, was da ei­gent­lich er­fasst wird. Die Un­ver­füg­bar­keit wird uns vor­ge­stellt als not­wen­di­ger Aspekt ei­ner Re­so­nanz­be­zie­hung, die zwi­schen ei­nem Sub­jekt und sei­ner Um­welt ent­ste­hen kann. Die­se Re­so­nanz sei Aus­druck ei­ner für je­des ge­lin­gen­de Le­ben un­er­läss­li­chen Welt­be­zie­hung, bei der sich Sub­jekt und Welt we­der »stumm« noch sta­tisch, son­dern in ei­nem »dy­na­mi­schen In­ter­ak­ti­ons­ge­sche­hen« ge­gen­über­ste­hen. [3] Es geht um rhyth­mi­sche Be­zug­nah­men und In­ter­ak­tio­nen auf­ein­an­der, bei de­nen die je­wei­li­ge Ei­gen­be­we­gung der be­tref­fen­den Din­ge nie voll­stän­dig aus­ge­löscht wird. Es geht um ein »of­fe­nes, vi­brie­ren­des, at­men­des«, »wech­sel­sei­ti­ges Be­rührt- und Be­geis­tert­wer­den«, das ein ent­ge­gen­kom­mend-an­er­ken­nen­des an­statt ein zu­rück­wei­send-miss­ach­ten­des Ethos und da­mit ein sich selbst öff­nen­des Sub­jekt eben­so zur Be­din­gung hat, wie ei­nen welt- und in­ter­ak­ti­ons­of­fe­nen leib­li­chen und le­ben­di­gen Or­ga­nis­mus.

Re­so­nanz­erfah­run­gen kön­nen we­der auf rein ko­gni­ti­ve noch rein emo­tio­na­le Be­schrei­bun­gen re­du­ziert wer­den: Wir er­le­ben sie oft als un­ent­schie­den zwi­schen un­se­rem Den­ken und Füh­len. Wir kön­nen in der Re­gel nicht ein­mal ge­nau un­ter­schei­den, was an ih­nen be­wusst und was un­be­wusst ist. Wir kön­nen nicht sa­gen, was uns da­bei syn­äs­the­tisch bloß zu­kommt oder was wir mit un­se­rer Ein­bil­dungs­kraft schöp­fe­risch wohl al­les hin­zu­tun. Wir kön­nen nicht ein­mal all­zu klar auf­schlüs­seln, bis wo­hin an die­sem »vi­brie­ren­den Draht« das Selbst reicht und wo die Au­ßen­welt an­fängt. Das gilt auch für das be­son­de­re Zeit­er­le­ben der Re­so­nanz, da sie eine Welt­be­zie­hung stif­tet, wäh­rend sie sich auf­hebt: manch­mal hat sie zwar eine sta­bi­le Dau­er, sta­tisch ist je­doch nie, sie bleibt »das mo­ment­haf­te Ein- und Auf­lö­sen« ei­nes »Be­geh­rens«.

Von hier aus kann man prä­zi­sie­ren: Die Un­ver­füg­bar­keit ist eine von vier not­wen­di­gen Be­din­gun­gen der Re­so­nanz­erfah­rung. Da sei das Mo­ment der Be­rüh­rung: mit ei­nem Men­schen, Kunst­werk oder ei­ner Land­schaft zu re­so­nie­ren be­deu­te, von ih­nen »in­wen­dig er­reicht« und »be­wegt« zu wer­den: Wir wer­den durch ei­nen »An­ruf« in Be­we­gung ge­setzt, wir »füh­len«, dass uns die Welt an­spricht. [4] Dann ist da das Mo­ment der Selbst­wirk­sam­keit: die Be­rüh­rung muss als eine un­se­rem Leib und Geist ent­spre­chen­de Ei­gen­be­we­gung er­lebt und da­mit als ak­ti­ve Ant­wort auf die Welt zu­rück­ge­wen­det wer­den kön­nen. Zu­dem gibt es das Mo­ment der An­ver­wand­lung und Trans­for­ma­ti­on: ei­ner­seits wer­den wir durch die Be­rüh­rung »zu ei­nem an­de­ren Men­schen ge­macht« und an­de­rer­seits än­dert sich da­mit auch die Welt (für uns): »eben dar­in liegt die Er­fah­rung von Le­ben­dig­keit«, also der Er­fah­rung ei­nes un­ver­füg­ba­ren, weil un­be­re­chen­ba­ren, nicht plan­ba­ren ge­stal­te­ri­schen Mo­ments der Ent­wick­lung der Be­zie­hun­gen zu uns selbst, An­de­ren und zur Um­welt. Ei­ner­seits sei die Re­so­nanz­erfah­rung als Er­eig­nis un­ver­füg­bar: sie las­se sich nicht (re)produzieren oder in ih­rem Ver­lauf vor­her­sa­gen. An­de­rer­seits sei auch der In­halt ei­ner Re­so­nanz­be­zie­hung nie voll­stän­dig ver­füg­bar: Dass etwa ein an­de­rer Mensch »nein« oder »Jetzt nicht« zu uns sa­gen kann, sei ein eben­so stö­ren­der wie kon­sti­tu­ti­ver Mo­ment der Re­so­nanz, wie der zwar un­be­re­chen­ba­re, aber nie ganz zu­fäl­li­ge, da von mir er­wart­ba­re und an­ti­zi­pier­ba­re ers­te Schnee­fall. So gilt: »Es kann ein re­so­nan­tes Ge­gen­über nur so lan­ge sein und blei­ben, wie ich es nicht voll­stän­dig be­grif­fen, ver­stan­den und ver­ar­bei­tet habe.«

Die zur Re­so­nanz »qua­li­fi­zier­te« »Hal­bun­ver­füg­bar­keit« kann also wahr­ge­nom­men wer­den in Re­la­ti­on zum Brenn­punkt drei­er Er­fah­rung: der in­wen­di­gen Be­rüh­rung, der Selbst­wirk­sam­keit und der er­geb­nis­of­fe­nen Trans­for­ma­ti­on der Welt­be­zie­hun­gen. Was aber ist das für ein Mo­dus der Wahr­neh­mung? Das dis­kurs­füh­ren­de Sub­jekt der Re­so­nanz­theo­rie gibt uns die fol­gen­de Ant­wort:

»Re­so­nanz ist das (mo­ment­haf­te) Auf­schei­nen […] ei­ner Ver­bin­dung zu ei­ner Quel­le star­ker Wer­tun­gen in ei­ner über­wie­gend schwei­gen­den und oft auch re­pul­si­ven Welt. Des­halb sind Mo­men­te in­ten­si­ver Re­so­nanz­erfah­rung […] stets auch er­füllt von ei­nem star­ken Mo­ment der Sehn­sucht: Sie ber­gen das Ver­spre­chen auf eine an­de­re Form der Welt­be­zie­hung […]; sie ver­mit­teln die Ah­nung von ei­ner tie­fen Ver­bun­den­heit; aber sie be­sei­ti­gen nicht die da­zwi­schen lie­gen­den For­men der Fremd­heit und der Un­ver­füg­bar­keit.« [5]

Schweiß­per­len für die phi­lo­so­phi­sche Stirn: der Mo­dus des Er­fas­sens re­so­nan­ter Un­ver­füg­bar­keit ist aus­ge­rech­net eine Ah­nung, mit der die Er­kennt­nis­theo­rie seit dem selbst­er­klär­ten Über­gang vom My­thos zum Lo­gos hart ins Ge­richt geht. Wir er­fas­sen das Mo­ment der Un­ver­füg­bar­keit nicht mit ei­ner ein­fa­chen äu­ße­ren Sin­nes­wahr­neh­mung: Wo­mög­lich geht es eher um eine Art Zei­chen am Sicht­ba­ren, das nicht ohne ak­ti­ve Deu­tung oder in­ner­sinn­li­chen, krea­ti­ven Ei­gen­bei­trag auf das an ihm haf­ten­de Un­sicht­ba­re zei­gen kann? Wir er­fas­sen das Halb­ver­füg­ba­re auch nicht als er­fah­rungs­un­ab­hän­gi­ge, un­be­ding­te, zwei­fels­freie Ge­wiss­heit, die un­ser Den­ken be­ru­higt: Das re­so­nie­ren­de Sub­jekt ist ja in Un­ru­he und ahnt zu­dem auf der Grund­la­ge von Le­benserfah­rung. Eben­so we­nig kann sich die Dia­lek­tik der Ah­nung vom ver­füg­ba­ren Un­ver­füg­ba­ren als Wis­sens­ge­ne­se qua­li­fi­zie­ren, da Wahr­heits­kri­te­ri­en oder Be­din­gun­gen der Fal­si­fi­zier­bar­keit oder über­zeu­gen­den Be­gründ­bar­keit in der Re­so­nanz­erfah­rung of­fen­bar pre­kär blei­ben müs­sen.

Viel­leicht bringt uns ein zwei­tes Zi­tat auf die Spur zu die­ser Ah­nung, das mir zwei An­stri­che er­laubt, wie wir wei­ter über sie nach­den­ken kön­nen:

»Ge­wiss ist die­se Art der Wahr­neh­mung gleich­sam auf bei­den Sei­ten oft al­len­falls halb be­wusst: Wir wis­sen nicht ge­nau zu sa­gen, was uns da an­spricht und was da in uns dar­auf re­agiert. Zu Er­fah­run­gen die­ser Art […] ge­hört dann aber den­noch ers­tens das Ge­fühl ei­ner in­ne­ren Ver­wand­lung […] und vor al­lem: die Ver­mu­tung oder auch die Hoff­nung, dass es sich loh­nen könn­te, sich nä­her dar­auf ein­zu­las­sen, sich wei­ter da­mit zu be­schäf­ti­gen, weil wir eben das, was uns da an­spricht, noch nicht er­schöp­fend ver­ste­hen oder nicht aus­ge­schöpft ha­ben.« [6]

Ers­tens könn­ten wir die Ah­nung mit vol­ler Ab­sicht als epis­te­misch un­zu­ver­läs­si­gen Sam­mel­be­griff für Wahr­neh­mun­gen ganz ver­schie­de­ner Gra­de der Klar- und Deut­lich­keit ver­ste­hen. Phi­lo­lo­gi­sche Her­kunft wäre dann der mit­tel­hoch­deut­sche Aus­druck »es anet mir« und sei­ne Be­deu­tung »es kommt mich an« bzw. »es kommt über mich«. Da­mit be­kä­me die Ah­nung ih­ren zen­tra­len Aspekt des Füh­lens und Spü­rens, das zwar ins Den­ken ein­dringt, aber die Schwel­le ei­nes Ge­dan­kens nie über­schrei­tet, der mit Ge­wiss­heit et­was fest­stellt und be­grei­fen kann. Zu­dem könn­te die Ah­nung nach ei­nem sehr prä­zi­sen Text von Ste­fan Wil­ler als »Vor­ge­fühl« und »dunk­les Er­ken­nen« [7] oder nach Wolf­ram Ho­gre­be als »na­tür­li­ches Er­ken­nen« [8] durch den gan­zen leib­ge­is­ti­gen Or­ga­nis­mus ver­stan­den wer­den, bei dem die be­tref­fen­den Sin­nes­wahr­neh­mun­gen und Ge­dan­ken stets ein le­bens­dien­li­ches und bio­gra­fi­sches Vor­zei­chen be­kom­men, also tat­säch­lich von der Le­bens­er­fah­rung und ge­gen­wär­ti­gen Be­dürf­nis­sen des er­ken­nen­den Sub­jekts ab­hän­gen.

Wenn man mir bis hier­hin folgt, wird au­ßer­dem ein Zeit­vek­tor je­der Ah­nung be­stimm­bar. An­ders etwa, als bei ei­ner Er­klä­rung oder Re­fle­xi­on bzw. ei­ner »Ahndung« [9], ist die ge­gen­wär­tig ah­nen­de Wahr­neh­mung nicht rück­wärts­ge­wandt, son­dern gilt der Zu­kunft: sie ist ein Vor­ah­nen ei­ner Ent­wick­lung, die ent­wi­ckelt und ent­fal­tet, »was wei­te­res dar­un­ter ver­bor­gen« sein könn­te, wie es im Grimm’schen Wör­ter­buch heißt. [10] So spricht Her­der bei der Ah­nung von ei­nem »in­ne­ren Sinn für die Zu­kunft«. [11]

Die Un­ver­füg­bar­keit der Ver­än­de­rung mei­ner Welt­be­zie­hung, die in der Re­so­nanz­erfah­rung ge­ahnt wird, ist aber kei­ne Deu­tung ei­nes te­leo­lo­gi­schen Zei­chens (etwa ei­nes un­aus­weich­li­chen Schick­sals). Viel­mehr voll­zieht die­ser in­ne­re Sinn eine un­si­che­re, sich aber nun ein­mal ge­ra­de jetzt ver­wirk­li­chen­de Zu­kunft. Das »schöp­fe­ri­sche« An­ti­zi­pie­ren be­steht erst ein­mal nur dar­in, dass die Ah­nung dem er­ra­tisch un­ver­füg­ba­ren Zu­fall der Zu­kunft z. B. eine Hoff­nung oder, möch­te ich mit Luh­mann er­gän­zen, auch eine den Zu­fall ver­knap­pen­de, weil ver­trau­ens­stif­ten­de Maß­nah­me ent­ge­gen­setzt: [12] in dem Mo­ment, wo wir un­se­re zu­künf­ti­ge Ent­wick­lung ah­nen, und da­bei auf et­was Va­ges hof­fen oder auf et­was Un­be­gründ­ba­res ver­trau­en, ist für das Ich-Hier-Jetzt zu­künf­tig schon nicht mehr Al­les mög­lich. Mit der Vor­ah­nung macht die qua­li­fi­zier­te Un­ver­füg­bar­keit in der Re­so­nanz­erfah­rung also so­wohl eine spon­ta­ne Ver­knap­pung des Ver­füg­ba­ren als auch eine Ver­knap­pung der er­ra­ti­schen Un­ver­füg­bar­keit mög­lich. So aber ar­bei­tet die Ah­nung an der Zu­kunft mit, sie schafft Zu­kunft, wäh­rend sie sie er­fasst: die Ah­nung ist ein Akt schöp­fe­ri­schen Er­ken­nens. An­ders ge­wen­det: ihre epis­te­mi­sche Un­zu­ver­läs­sig­keit ist eine Be­din­gung für die prak­ti­sche Er­fah­rung of­fe­ner Trans­for­ma­ti­ons-Chan­cen.

Mein zwei­ter An­strich kreist nun al­ler­dings um den Ver­dacht, dass die Re­so­nanz­theo­rie der Ah­nung noch viel mehr zu­mu­tet als das bis­her von mir un­ter­stell­te. Im­mer­hin soll sich die Ah­nung »dia­lek­tisch« qua­li­fi­zie­ren, so­gar eine Quel­le der Wer­te (ein nor­ma­ti­ver Ur­sprung) und im In­halt eine Ah­nung vom Le­ben und Le­ben­di­gen sein. Und wel­cher stär­ke­re, zwei­fel­los nicht we­ni­ger pro­ble­ma­ti­sche phi­lo­so­phi­sche Be­griff in der Nach­bar­schaft der Ah­nung ver­bin­det denn tra­di­tio­nell die­se drei Aspek­te? Das ist die In­tui­ti­on bzw. das in­tui­ti­ve Er­fas­sen. Nicht die pla­to­nisch ge­schau­ten Ideen; nicht die Ge­wiss­hei­ten und evi­den­ten Letzt­ein­sich­ten Des­car­tes‘. Auch nicht die In­tui­ti­on, die sich für Kant phi­lo­so­phisch ein­zig da­durch qua­li­fi­zie­ren kann, dass sie ei­nem kla­ren und deut­li­chen Be­griff eine eben­so kla­re und deut­li­che An­schau­ung in Form ei­nes Bei­spiels, Sche­mas oder Sym­bols bei­brin­gen kann. Auch nicht die christ­li­che In­tui­ti­on Schlei­er­ma­chers als Of­fen­ba­rungs­schau des gött­li­chen Ewi­gen.

Wo­mög­lich geht es eher um die »ju­beln­den« und »dä­mo­ni­schen« In­tui­tio­nen Nietz­sches, mit de­nen sich das Sub­jekt nicht nur fin­det, son­dern er­fin­det; die im­mer eine wert­schöp­fen­de Ver­wirk­li­chung ei­nes le­ben­di­gen Im­pul­ses sind und von de­nen aus »kein re­gel­mä­ßi­ger Weg in das Land der ge­spens­ti­schen Sche­ma­ta, der Abs­trak­tio­nen« führt und für die »das Wort nicht ge­macht« ist und bei de­nen wir den­noch nicht schwei­gen kön­nen und »in lau­ter ver­bo­te­nen Me­ta­phern und un­er­hör­ten Be­griffs­fü­gun­gen« re­den, »um we­nigs­tens durch das Zer­trüm­mern und Ver­höh­nen der al­ten Be­griffs­schran­ken dem Ein­dru­cke der mäch­ti­gen ge­gen­wär­ti­gen In­tui­ti­on schöp­fe­risch zu ent­spre­chen.« [13] Viel­leicht geht es auch um die füh­lend-den­ken­den, or­ga­nis­mi­schen In­tui­tio­nen Berg­sons? In­tui­tio­nen, die eben­falls, wie das mit der Welt re­so­nie­ren­de Sub­jekt, ein »Hin­ein­ver­set­zen« und eine un­mit­tel­ba­re Syn­chro­ni­sa­ti­on un­ter­schied­li­cher, ei­gen­le­ben­di­ger Dau­ern in dem Mo­ment voll­zie­hen müs­sen, wo die­se be­gin­nen, vor dem Hin­ter­grund der Le­bens­er­fah­rung zu­sam­men zu schwin­gen und we­nigs­tens für ei­nen kur­zen, sel­te­nen Au­gen­blick »Sub­jekt und Ge­gen­stand als in­ein­an­der über­ge­hend und als he­te­ro­ge­ne Ein­heit in­ner­sinn­lich her­vor­ge­bracht wer­den«? [14]

Ich glau­be, die­se Fra­gen und Ideen hel­fen uns nun da­bei, wei­ter über die­se bei­den Modi des Ah­nens und In­tu­ie­rens nach­zu­den­ken, die für die be­son­de­re Art der Wahr­neh­mung und des Be­wusst­wer­dens von Re­so­nanz­er­leb­nis­sen Sor­ge tra­gen kön­nen und sie uns als das er­fas­sen las­sen, was sie sind: ge­lin­gen­de und le­ben­di­ge Über­gän­ge un­se­rer Ver­hält­nis­se zu uns selbst und un­se­rer Um­welt.

 

[1] Rosa: Un­ver­füg­bar­keit, S. 8.

[2] In der ge­nann­ten Rei­hen­fol­ge: Pla­ton, The­ai­te­tos, 155d; Kant, Kri­tik der rei­nen Ver­nunft, A 249; Der­ri­da, Die Schrift und die Dif­fe­renz; Whit­ehead, Pro­zess und Rea­li­tät; Berg­son, Schöp­fe­ri­sche Evo­lu­ti­on; Witt­gen­stein, Trac­ta­tus, § 7 bzw. § 6.52; Nietz­sche, Jen­seits von Gut und Böse; Heid­eg­ger, Sein und Zeit bzw. »Die Tech­nik und die Keh­re«.

[3] Hier und im Fol­gen­den, wenn nicht an­ders aus­ge­wie­sen: Rosa, Re­so­nanz.

[4] Hier und im Fol­gen­den, wenn nicht an­ders aus­ge­wie­sen: Rosa, Un­ver­füg­bar­keit.

[5] Rosa, Re­so­nanz, S. 317, Her­vor­he­bung: R. P.

[6] Rosa, Un­ver­füg­bar­keit, S. 57f., Her­vor­he­bung: R. P.

[7] Wil­ler, Ah­nen und Ahn­den. Zur his­to­ri­schen Se­man­tik des Vor­ge­fühls um 1800.

[8] Ho­gre­be, Ah­nung und Er­kennt­nis.

[9] z. B. je­man­den für sei­ne ver­gan­ge­nen Ta­ten ahn­den, usw.

[10] Grimms Deut­sches Wör­ter­buch (1854), Ein­trag: Ah­nen.

[11]  Her­der, Vom Wis­sen und Nicht­wis­sen der Zu­kunft.

[12] Luh­mann, Ver­trau­en.

[13] Nietz­sche, Über Wahr­heit und Lüge im au­ßer­mo­ra­li­schen Sin­ne, 2.

[14] Berg­son, Ein­füh­rung in die Me­ta­phy­sik, S. 183.

 

 

 

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Themenreihe: Zeichen der Zeit in Literatur und Film
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»… ha­ben uns die Al­ten nur be­schis­sen?«

Themenreihe: Zeichen der Zeit in Literatur und Film
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