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Zei­chen set­zen: Mein Eu­ro­pa

Die EU kurz vor den Wahlen. Was bedeutet Europa für uns? Zwei Kollegiat*innen blicken auf (ihr) Europa.

Le­bens­wert Eu­ro­pa

Von René Pi­kar­ski

Es gibt ei­nen Satz, der seit dem Kriegs­aus­bruch und kurz vor der Eu­ro­pa­wahl umso lau­ter in fast je­dem Win­kel un­se­res de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en­spek­trums wi­der­hallt: »In der Ukrai­ne wer­den im Mo­ment un­se­re eu­ro­päi­schen Wer­te ver­tei­digt.« Nach ih­nen ge­fragt und für sie ge­kämpft wird dort nicht erst seit dem Eu­ro­mai­dan. Hin und wie­der hat­te ich den Ein­druck, dass die­je­ni­gen, die da mit ih­ren Hoff­nun­gen und ih­rem po­li­ti­schen En­ga­ge­ment die eu­ro­päi­schen Wer­te mit Le­ben er­füll­ten, gründ­li­cher über sie Be­scheid wuss­ten als wir EU-Europäer*innen und bes­ser ver­stan­den, was mit ih­nen auf dem Spiel steht. Ab und zu fra­ge ich am Fa­mi­li­en­tisch, in der Schu­le und in Se­mi­na­ren nach die­sen Wer­ten und mer­ke, wie gut die For­meln sit­zen und wie ih­nen doch die Lei­den­schaf­ten feh­len. Die Be­deu­tung für das ei­ge­ne Le­ben muss oft erst hin­zu­ver­nünf­telt wer­den.

Ich glau­be, wir ha­ben un­se­re ge­mein­sa­men Wer­te nicht ver­ges­sen, wir ha­ben sie ge­lebt und da­bei zu sel­ten mit neu­em Le­ben er­füllt.

Mein Eu­ro­pa, mein Ge­ständ­nis: Ich ge­hö­re zu den nüch­ter­nen »Ver­fas­sungs­pa­trio­ten«, weil mir ein Mi­ni­mal­kon­sens le­gal le­gi­ti­mier­ter Grund­wer­te als bes­ter Ga­rant für eine Le­bens­viel­falt er­scheint, in der mei­ne Le­bens­ge­stal­tung nicht stär­ker dis­kri­mi­niert und ein­ge­schränkt wird als die von an­de­ren. Wenn ich da­bei auf mei­ne ei­ge­nen Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­run­gen als ho­mo­se­xu­el­ler und ehe­mals nicht ge­ra­de un­auf­fäl­li­ger Punk zu­rück­schaue, dann mer­ke ich, dass mir bis heu­te alle For­men von lei­den­schaft­li­chem Pa­trio­tis­mus, die das rich­ti­ge und gute (Zusammen-)Leben oder die rich­ti­ge und gute Ge­sell­schaft pre­di­gen, ziem­lich su­spekt blei­ben. Da­her mein Vor­zug ei­nes mi­ni­ma­len Wer­te­kon­sens, der aus­rei­chend sta­bil ist, um un­se­re Ver­schie­den­heit zu wah­ren und auf Über­schrei­tun­gen sou­ve­rän zu re­agie­ren. Ein Wer­te­ge­we­be, das aber auch of­fen oder be­weg­lich ge­nug ist, um sich den ak­tu­el­len Her­aus­for­de­run­gen und Chan­cen der In­nen­welt und Um­welt an­zu­pas­sen und um neu ent­ste­hen­den Un­ge­rech­tig­kei­ten ge­gen­über nicht blind zu blei­ben. Al­lein, wenn ich mei­ne alte, ab­ge­grif­fe­ne EU-Char­ta aus dem Schrank zie­he, wer­de ich ru­hi­ger. Da sind sie ja, all die ge­mein­sa­men eu­ro­päi­schen Wer­te von der »Wür­de des Men­schen, der Frei­heit, der Gleich­heit und der So­li­da­ri­tät« »auf den Grund­sät­zen der De­mo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit« und un­ter »Ach­tung der Viel­falt der Kul­tu­ren und Tra­di­tio­nen der Völ­ker Eu­ro­pas so­wie der na­tio­na­len Iden­ti­tät« und mit dem Stre­ben nach ei­ner »aus­ge­wo­ge­nen und nach­hal­ti­gen Ent­wick­lung« und dem »frei­en Personen‑, Dienstleistungs‑, Wa­ren- und Ka­pi­tal­ver­kehr«.

Ich glau­be, wir ha­ben das nicht ver­ges­sen, wir ha­ben es nur zu sel­ten als Grund­satz im po­li­ti­schen Han­deln un­se­rer Ver­tre­tun­gen wahr­ge­nom­men.

Eine Ukrai­ne­rin frag­te mich an­ge­sichts ih­res Lei­dens un­ter Krieg und Kor­rup­ti­on, war­um in al­ler Welt wir »im Wes­ten« so un­zu­frie­den mit der EU sind. Für sie wie für mich war der Eu­ro­mai­dan ein Le­bens­hauch, ein Weck­ruf aus dem »an­de­ren Eu­ro­pa«, ein Weck­ruf an die schläf­ri­ge EU, die ih­rem Eu­ro­pa als frei­heit­lich-de­mo­kra­ti­sche Idee, po­li­ti­sche Hand­lungs­for­ma­ti­on und Ge­mein­schaft, stets mit über­bor­den­der Bü­ro­kra­tie, der Mar­gi­na­li­sie­rung von The­men und in­trans­pa­ren­ter Ad­mi­nis­tra­ti­on droh­te, zu ei­nem star­ren, al­les und je­den uni­for­mie­ren­den Me­cha­nis­mus zu wer­den. Vie­len scheint die Kom­mis­si­on vom Par­la­ment, dem ei­gent­lich de­mo­kra­ti­schen Herz der EU, im­mer un­ab­hän­gi­ger vom De­mos Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Vie­le sind zu Recht stin­kig auf die Kor­rup­ti­ons­fäl­le im Par­la­ment. Al­lein das for­dert von uns mehr öf­fent­li­ches In­ter­es­se und po­li­ti­sche Teil­ha­be und da­mit auch un­se­re Stim­me, um das Par­la­ment zu stär­ken.

Ich glau­be, wir ha­ben nicht ver­ges­sen, dass un­ser de­mo­kra­ti­sches Zu­sam­men­le­ben ver­wal­tet wer­den muss, viel­leicht spü­ren wir nur die un­be­hag­li­che Nähe von Kor­rup­ti­on und will­kür­li­cher Bü­ro­kra­tie, die ei­gent­lich die be­vor­zug­ten Mit­tel au­to­kra­ti­scher Re­gime sind.

Eu­ro­pa be­steht nicht aus der EU und die EU nicht nur aus ih­ren Ver­wal­tun­gen und Pa­ra­gra­phen. Viel­leicht be­steht die EU über­haupt gar nicht, son­dern ent­steht fort­wäh­rend neu aus den viel­fäl­ti­gen Be­dürf­nis­sen ih­rer Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, aus den ver­schie­de­nen Hal­tun­gen, an lo­ka­len Hot­spots, so­gar au­ßer­halb, mit ih­rem Echo in der Welt, in Va­ria­tio­nen, mit win­zi­gen Nu­an­cen, in viel­fäl­ti­gen Per­spek­ti­ven, Ko­ope­ra­tio­nen und So­li­da­ri­tä­ten. Sie braucht, und das muss ihr Vor­teil für alle Zei­ten blei­ben, kei­nen Uni­ver­sa­lis­mus und To­ta­li­ta­ris­mus, son­dern ei­nen of­fe­nen, den Wi­der­spruch und die Aus­hand­lung und Kom­ple­xi­tät lie­ben­den prag­ma­ti­schen Per­spek­ti­vis­mus im po­li­ti­schen Han­deln.  Sie braucht kei­ne in blo­ßer Rück­schau trau­ern­den, al­ten, wei­ßen Au­to­kra­ten, die ohn­mäch­tig und des­halb mit Kor­rup­ti­on, Ge­walt und Ter­ror ihre noch äl­te­ren Vor­stel­lun­gen vom Men­schen und der Welt durch­set­zen und da­mit stän­dig dem fried­li­chen Ge­stal­tungs­drang jun­ger, en­ga­gier­ter Ge­ne­ra­tio­nen in die Pa­ra­de cra­shen. Eu­ro­pa gilt vie­len als alt. Als Kö­nigs­toch­ter aber war sie eine Ju­gend­li­che, die von al­ten Män­nern ih­rer Hei­mat be­raubt, ent­führt und ver­ge­wal­tigt wur­de. Alte Män­ner, die sich als ju­gend­li­che Lieb­ha­ber ver­klei­de­ten und ihre wah­ren Ab­sich­ten ver­schlei­er­ten. Eu­ro­pa ist da­her kei­ne »Lie­bes­af­fä­re« und schon gar nicht zu de­nen, die al­les al­lein und bloß nach Ei­gen­wil­len be­herr­schen wol­len. Sie ist die Ge­schich­te ei­ner Eman­zi­pa­ti­on, an de­ren Ende ein sta­bi­ler Frie­den und eine neue Hei­mat ste­hen sol­len, die bei­de nicht ge­wor­den, son­dern ge­macht sind. Eu­ro­pa herrsch­te nie mit dem ihr ewig Ei­ge­nen und nicht mit dem kor­rup­ten Vor­teil ih­rer Erb­schaft. Sie ge­bar selbst kei­ne Kin­der, sie ad­op­tier­te wel­che. Sie lud in ih­rer dau­er­haft neu­gie­ri­gen Ju­gend­lich­keit das An­de­re und das Ver­schie­de­ne zu sich ein. Auch, um das Stau­nen nicht zu ver­ler­nen.

Ich glau­be, wir ha­ben die­se Ge­schich­te Eu­ro­pas nicht ver­ges­sen, wir ha­ben sie in letz­ter Zeit oft nur sehr schlecht er­zählt be­kom­men.

Han­nah Are­ndt hat mein Eu­ro­pa da­her ein­mal so be­schrie­ben: »Eine Sa­che kann sich un­ter vie­len Aspek­ten nur zei­gen, wenn Vie­le da sind, de­nen sie aus ei­ner je­weils ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ve er­scheint. Wo die­se gleich­be­rech­tig­ten An­de­ren und ihre par­ti­ku­la­ren Mei­nun­gen ab­ge­schafft sind, wie etwa in der Ty­ran­nis, in der alle und al­les dem ei­nen Stand­punkt des Ty­ran­nen ge­op­fert ist, ist nie­mand frei und nie­mand der Ein­sicht fä­hig, auch der Ty­rann nicht.« – Wir wis­sen, wel­che Ty­ran­nen uns im Mo­ment die­se eu­ro­päi­sche Frei­heit neh­men wol­len, mit der wir uns als Ver­schie­de­ne ge­mein­sam be­geg­nen und als Ver­schie­de­ne ge­mein­sam han­deln kön­nen.

Ich glau­be, wir kön­nen die­se Frei­heit nicht ver­ges­sen, wir müs­sen sie nur un­auf­hör­lich wäh­len und dür­fen nicht eine Se­kun­de dar­an ver­schwen­den, sie ab­zu­wäh­len.



Ein Stück Eu­ro­pa

Von Han­nah Ber­ger

In ei­nem deut­schen Wohn­zim­mer im Brett­spiel­re­gal ei­ner schwe­di­schen Mö­bel­haus­ket­te lugt zwi­schen Scrabb­le und Car­cas­son­ne ein Stück Eu­ro­pa her­vor. Es ist ei­nes die­ser päd­ago­gisch wert­vol­len Land­kar­ten-Puz­zles, die über­mo­ti­vier­te Gymnasialleher:innenehepaare ih­ren po­ten­zi­ell hoch­be­gab­ten Kin­dern kau­fen, da­mit Finn-Luca und Emi­ly-So­phie beim Spie­len ganz ne­ben­bei noch et­was Nütz­li­ches ler­nen. Mein Va­ter ist zwar kein Gym­na­si­al­leh­rer, doch das hat ihn of­fen­sicht­lich nicht da­von ab­ge­hal­ten, mir eins die­ser Puz­zles zu schen­ken, als ich un­ge­fähr neun oder zehn Jah­re alt war.

In­zwi­schen bin ich sie­ben­und­zwan­zig und habe es im­mer noch nicht ge­schafft, das Eu­ro­pa-Puz­zle aus sei­ner Ori­gi­nal­ver­pa­ckung zu be­frei­en. Nicht, weil mir das Ge­schenk nicht ge­fal­len hät­te – im Ge­gen­teil. Viel­mehr fürch­te­te ich den Ge­dan­ken, der eu­ro­päi­sche Kon­ti­nent kön­ne beim Ent­fer­nen der Plas­tik­hül­le un­wi­der­ruf­lich in sei­ne Ein­zel­tei­le zer­bre­chen. Die dün­ne, trans­pa­ren­te Fo­lie schien die Na­tio­nen zu um­schlie­ßen wie eine schüt­zen­de Mem­bran ei­nen le­ben­di­gen, at­men­den Or­ga­nis­mus.

Ab­ge­se­hen da­von war ich schon mit zehn der Mei­nung, dass Puz­zeln eine maß­los über­be­wer­te­te Tä­tig­keit ist. An­statt Eu­ro­pa in müh­se­li­ger Kleinst­ar­beit im­mer wie­der aufs Neue zu­sam­men­zu­set­zen, ver­brach­te ich mei­ne Zeit lie­ber da­mit, mich in die ent­le­gens­ten Win­kel des Kon­ti­nents zu träu­men. Stun­den­lang wan­der­ten mei­ne Au­gen un­er­müd­lich über die Kar­te, durch­streif­ten die moo­ri­gen Wie­sen der schot­ti­schen High­lands, er­klom­men die zer­klüf­te­ten Gip­fel der Py­re­nä­en und tauch­ten ein in die sanf­ten Wel­len des Mit­tel­meers. Wäh­rend mein Zei­ge­fin­ger an­däch­tig die fi­li­gra­nen Li­ni­en der Län­der­gren­zen nach­zeich­ne­te, form­ten mei­ne Lip­pen stumm die Na­men frem­der Städ­te, die in mei­nem Kopf nach und nach im­mer ver­trau­ter klan­gen.

Spä­ter such­te ich die Orte aus den Englisch‑, La­tein- und Spa­nisch­bü­chern, lern­te sämt­li­che Haupt­städ­te für den Erd­kun­de­un­ter­richt und die EU-Mit­glieds­staa­ten für die So­zi­al­kun­de­klau­sur. Mit den Lie­dern mei­ner fin­ni­schen Lieb­lings­band im Ohr plan­te ich nach dem Ab­itur die Rei­se­rou­te für mei­nen In­ter­rail-Trip und schätz­te die Ent­fer­nung po­ten­zi­el­ler Stu­di­en­städ­te zum Wohn­ort mei­ner El­tern.

Wenn ich an Eu­ro­pa den­ke, dann den­ke ich bis heu­te an das Land­kar­ten-Puz­zle im schwe­di­schen Brett­spiel­re­gal. An ei­nen eu­ro­pa­för­mi­gen Tep­pich aus bun­ten Fli­cken und za­cki­gen Näh­ten. Und an die dün­ne Plas­tik­haut, die al­les zu­sam­men­hält.

Es hat sich viel ver­än­dert, seit ich zehn Jah­re alt war. Das Eu­ro­pa von heu­te ist nicht mehr das Eu­ro­pa von da­mals. Die Son­ne, die je­den Abend durch das Wohn­zim­mer­fens­ter scheint, hat die einst so strah­len­den Far­ben über die Jah­re ver­blei­chen las­sen. Eine fei­ne Staub­schicht be­deckt den Kon­ti­nent vom Nord­kap bis nach Gi­bral­tar und in der ver­gilb­ten Plas­tik­fo­lie sind ers­te Ris­se zu er­ken­nen. Wenn ich heu­te an Eu­ro­pa den­ke, dann den­ke ich an hell leuch­ten­de Ster­ne, so hell, dass man da­nach grei­fen möch­te. Und an den tief­blau­en Oze­an, so tief, dass man meint, dar­an er­trin­ken zu müs­sen.

Nach­denk­lich zie­he ich das Eu­ro­pa­puz­zle aus dem Re­gal, wi­sche den Staub ab und fli­cke die zer­ris­se­ne Fo­lie mit klei­nen Te­sa­film­strei­fen. Das Eu­ro­pa von heu­te mag viel­leicht nicht mehr das­sel­be sein. Doch es ist im­mer noch mein Eu­ro­pa. Mein Eu­ro­pa ist al­les an­de­re als per­fekt. Aber es ist ein Teil mei­nes Le­bens und wird es im­mer sein. Ich tra­ge ein Stück Eu­ro­pa in mir. Ein Stück Frei­heit. Ein Stück Hei­mat. Ein Stück Welt. Eu­ro­pa ist ein Stück Ich. Und ich bin ein Stück Eu­ro­pa.

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